Schwerpunkt: Kriegsdienstverweigerung in Russland, der Ukraine und Belarus
Als Reaktion auf den andauernden Angriffskrieg von Russland in der Ukraine sowie den mutigen Kriegsdienstverweigererinnen und Pazifistinnen aus dieser Region, hat das Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung im Jahr 2022 auf der europäischen Agenda an Bedeutung gewonnen.
„Die Weiterführung des Krieges selbst zeigt ein tragisches Scheitern der Diplomatie und Politikerinnen sowie einen blutigen Sieg des Militarismus und der Kriegsprofiteurinnen. Die Mobilisierung und Verfolgung derer, die den Krieg verweigern, stellt eine fundamentale Verletzung ihrer Menschenrechte dar. Das gilt auch bezüglich der Politik wahlloser europäischer Sanktionen gegen alle Russ*innen statt ihnen Visa (des Typ C und D) auszustellen, mindestens denjenigen, die den Krieg verweigern“, erklärte EBCO-Präsidentin Alexia Tsouni.
Glücklicherweise wurden auch bemerkenswerte Fortschritte erzielt und mehr und mehr Stimmen rufen zum Frieden auf (voices for peace from civil society worldwide). Darunter ist auch die internationale #ObjectWarCampaign (Russland, Belarus, Ukraine: Schutz und Asyl für Deserteure und Kriegsdienstverweigerer), die gemeinsam getragen wird vom Europäischen Büro für Kriegsdienstverweigerung (EBCO), dem Internationalen Versöhnungsbund (IFOR), War Resisters’ International (WRI) sowie Connection e.V.
Im Juni 2022 hatten 60 Organisationen aus 20 Staaten einen Appell an das Europäische Parlament gesendet, in dem detailliert darlegt wurde, warum der Schutz und die Unterstützung von Deserteurinnen und Kriegsdienstverweigererinnen auf allen Seiten des Krieges in der Ukraine nötig und richtig ist. Am 6. April 2022 hatte der Präsident des Europäischen Rates, Charles Michel, russische Soldatinnen zwar dazu aufgerufen zu desertieren und versprach ihnen Schutz unter dem Flüchtlingsgesetz. Bisher wurde dieses Versprechen jedoch nicht eingelöst. Im Rahmen der #ObjectWarCampaign wurde eine Petition zum Unterzeichnen vorbereitet, die an die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, den Präsidenten des Europäischen Rates, Charles Michel sowie die Präsidentin des Europäischen Parlaments, Roberta Metsola, gerichtet ist. Die Petition betont die Notwendigkeit, das Recht auf Asyl für Kriegsdienstverweigererinnen und Deserteur*innen aus Russland, Belarus und der Ukraine umzusetzen.
EBCO verurteilt die russische Invasion in der Ukraine aufs Schärfste und ruft alle Soldatinnen Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR) garantiert ist und welcher gemäß Artikel 4 (2) ICCPR auch in Zeiten des öffentlichen Notstands unveräußerlich ist.
EBCO fordert Russland dazu auf, unmittelbar und bedingungslos all jene hunderte Soldatinnen und mobilisierten Zivilistinnen freizulassen, die sich dem Krieg widersetzen und illegal in einer Reihe von Zentren in den von Russland kontrollierten Gebieten der Ukraine festgehalten werden. Die russischen Behörden sollen Drohungen, psychologische Misshandlungen und Folter eingesetzt haben, um die Inhaftierten zur Rückkehr an die Front zu zwingen.
EBCO fordert die Ukraine auf, die Aussetzung des Menschenrechts auf Kriegsdienstverweigerung unverzüglich rückgängig zu machen, die christlichen pazifistischen Kriegsdienstverweigerer Vitaly Alekseenko (inhaftiert in der Kolomyiska-Strafkolonie Nr. 41) und Andrii Vyshnevetsky (an vorderster Front der Streitkräfte der Ukraine) freizulassen und ehrenhaft zu entlassen sowie alle Kriegsdienstverweigerer, einschließlich der christlichen Pazifisten Mykhailo Yavorsky und Hennadii Tomniuk, freizusprechen. Die Ukraine sollte das Recht auf Kriegsdienstverweigerung, auch in Kriegszeiten, unter vollständiger Einhaltung der europäischen und internationalen Standards, unter anderem der vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte festgelegten Standards, schützen.
In Europa wird der Zwang zum Kriegsdienst immer noch in 18 Staaten durchgesetzt, darunter 16 Mitgliedstaaten des Europarates (CoE). Sie sind: Armenien, Österreich, Aserbaidschan, Zypern, Dänemark, Estland, Finnland, Georgien (Wiedereinführung 2017), Griechenland, Litauen (Wiedereinführung 2015), Moldawien, Norwegen, Russland (ehemaliger CoE-Mitgliedsstaat), Schweden (Wiedereinführung 2018), Schweiz, Türkei, Ukraine (Wiedereinführung 2014) und Belarus (Beitrittskandidat des Europarats).
Im Jahr 2022 waren viele Staaten Europas für zahlreiche Kriegsdienstverweigerinnen kein sicherer Ort. Ihnen drohte Verfolgung, Verhaftung, Gerichtsprozesse durch Militärgerichte, Gefängnisstrafen, Geldstrafen, Einschüchterung, Angriffe, Todesdrohungen und Diskriminierung. Zu diesen Staaten zählen Russland (wo derzeit hunderte Kriegsdienstverweigerinnen inhaftiert sind, weil sie sich weigern, am Krieg teilzunehmen), Ukraine (wo derzeit ein Kriegsdienstverweigerer in einer Militäreinheit an vorderster Front festgehalten wird und andere verurteilt und strafrechtlich verfolgt werden), Belarus, Türkei (der einzige Mitgliedstaat des Europarats, der immer noch nicht das Recht auf Kriegsdienstverweigerung umgesetzt hat) und folglich auch der türkisch-besetzte Nordteil Zyperns (die selbsternannte „Türkische Republik Nordzypern“), Azerbaijan (wo es immer noch kein Gesetz über den Zivildienst gibt) sowie Armenien, Georgien, Griechenland, die Republik Zypern, Finnland, Österreich, Schweiz, Estland und Litauen (in diesen Staaten ist das recht auf Kriegsdienstverweigerung zwar anerkannt und es gibt ein Gesetz über den Zivildienst, aber das Gesetz/oder die Praxis entspricht noch immer nicht den europäischen und internationalen Menschenrechtsstandards, was zu Verletzungen und Diskriminierung von Kriegsdienstverweigerer*innen führt).
Was das Mindestalter für den Kriegsdienst betrifft, so ermutigt das Zusatzprotokoll über Kinder in bewaffneten Konflikten die Staaten, jede Anwerbung von Personen unter 18 Jahren zu beenden. Eine beunruhigende Anzahl europäischer Staaten tut dies jedoch weiterhin nicht. Schlimmer noch: Einige verletzen die absoluten Verbote des Zusatzprotokolls, indem sie Militärangehörige unter 18 Jahren der Gefahr eines aktiven Einsatzes aussetzen oder indem sie Militärdienstpflichtigen erlauben, sich vor ihrem 18. Geburtstag zum Militärdienst zu melden.
Nicht zuletzt haben laut dem kürzlich veröffentlichten SIPRI-Militärausgabenbericht für 2022 die Militärausgaben in Europa seit mindestens 30 Jahren im Vergleich zum Vorjahr am stärksten zugenommen. Selbst weltweit war der mit Abstand stärkste Anstieg der Ausgaben (+13 Prozent) in Europa zu verzeichnen und wurde maßgeblich von russischen und ukrainischen Ausgaben getragen. Die Militärausgaben der Staaten in Mittel- und Westeuropa beliefen sich 2022 auf 345 Milliarden Dollar. Die Ausgaben dieser Staaten übertrafen zum ersten Mal jene des Jahres 1989, als der Kalte Krieg endete und waren insgesamt 30 Prozent höher als 2013. Nach der russischen Invasion in der Ukraine im Februar 2022 haben mehrere Staaten ihre Militärausgaben deutlich erhöht, während andere Staaten Pläne zur Erhöhung der Ausgaben über einen Zeitraum von bis zu einem Jahrzehnt angekündigt haben. Daher fordert EBCO eine Verringerung der Militärausgaben und eine Erhöhung der Sozialausgaben sowie Mittel für Bürger*innen pazifistischer Bewegungen, um sicher zu stellen, dass kein Teil der Steuern, die sie persönlich gezahlt haben, für Militärausgaben verwendet wird.
Der Jahresbericht im Umfang von 125 Seiten ist hier in englischer Sprache erhältlich als PDF